Lorchen

von Sophie Ernst

Lorchen Grulke schlief schlecht. Das nicht erst seit sie alt war, sondern sehr lange schon.
Früher machte ihr das nichts aus, da hatte sie immer so viel Arbeit. Aber die paar Hühner und der kleine Garten füllten ihre Zeit nicht aus. Hans, ihr Dackel, war vor einer Woche gestorben. Sie hatte ihn in der lockeren Erde des Blumenbeetes begraben, dort, wo die ersten Tulpen ihre Köpfe ans Licht schoben.
Eines Nachts Ende März saß sie wie so oft  am Fenster ihres Hauses mit Blick auf die Bundesstraße Richtung Oranienburg, die seit der Wende immer stärker befahren war und starrte ins Dunkel. Einschlafen, den Kopf voll Fernsehprogrammfetzen, klappte meist noch ganz gut. Aber um drei Uhr, spätestens vier war es vorbei. Dann war sie wach. So kurze Zeit. So wenige Stunden nur Erholung von dem schwerfälligen Wälzen der Gedanken und Erinnerungen. Erinnerungen vor allem. Aus der Zeit, da ihr Inneres noch weich war und die Ereignisse tiefe Furchen gruben wie Flüsse in weichem Gestein. Mittlerweile flossen die Ströme der Gedanken und Gefühle in immer gleichen Läufen aus denen es kein Entrinnen mehr gab. Da konnte passieren, was wollte. Selbst der allgemeine Freudentaumel zur Wiedervereinigung, die großen Veränderungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, hatten es nicht vermocht, ihre inneren Gewässer umzuleiten. So saß sie auch in dieser Nacht, der Nacht in der der Unfall geschah,   und dachte an früher. An die Kindertage, als die Sonne heißer schien, endlose Sommer lang und der Schnee im Winter weiß war.
 Damals verpaßten die drei älteren Brüder ihrer niedlichen Schwester das ”-chen” , das sie nie wieder loswerden sollte, das haften blieb wie ein ironischer Untertitel. Schon mit sechs überragte Lorchen die anderen Kinder in ihrer Klasse um einen Kopf. Wenig später besiegte sie ihre Brüder im Armdrücken. Selbst den großen, der fünf Jahre älter war als sie. Die Kinder des Dorfes organisierten Wettkämpfe. Mit dreizehn hatte sie Schuhgröße 43 und bekam ein paar alte Arbeitsstiefel ihres Vaters. Keiner in ihrer Familie war so groß, und die Leute machten Witze über die Wanderarbeiter, die ihre Mutter, eine hübsche zarte Frau, angeblich besuchten, wenn der Vater aus dem Haus war. Da halfen auch die prächtigen blonden Zöpfe nichts. Freundinnen hatte sie keine. Sie tobte mit den Jungen bis sie zu alt dafür wurde, danach blieb sie allein. Sie liebte die Arbeit auf dem Hof, die sie die Kraft in ihren Händen spüren ließ, und vermisste nichts.
Im Krieg bewährte sich Lorchen; groß und stark wie ihr Körper war auch ihr Gemüt. Zwei ihrer Brüder fielen und einer wurde aus Versehen von einem Traktor überrollt. Kurz darauf, im Sommer 44, fand sie ihre Eltern im Morgengrauen, eine Kugel im Kopf alle beide, der Vater hatte erst die Mutter, dann sich selbst erschossen, weil er fand, sie hätten genug gesehen. Lorchen schaufelte ein Grab zwischen den Blumen, so wie sie es 54 Jahre später für ihren Dackel tun sollte.
Das Alter hatte Lorchen wenig anhaben können. Ihre Haut hing an ihr wie eine zu große ledrige Hülle und ihr Kinn, auf dem einige dunkle Haare wuchsen, ging in sanften Wellen halslos in die Brust über. Ihre kurzgeschnittenen Haare standen in dünnen grauen Büscheln vom Schädel ab. Aber schön war sie nie gewesen und ihre Kraft hatte nicht nachgelassen.  Immer noch hackte sie Holz für ihren Ofen und trug zwei Getränkekästen auf einmal in ihren feuchten Keller. Auch hören und sehen konnte sie wie früher.
Es war etwa vier Uhr , als sie das Reh sah. Es stand mitten auf der Fahrbahn, vom plötzlichen Licht der Scheinwerfer geblendet, regungslos wie eine niedliche Gartenskulptur.  Aus dem nahe gelegenen Wald kamen immer wieder Re
he, letzten Sommer hatten sie sämtlichen Rosen in Lorchens Garten die Köpfe abgebissen. Der Fahrer des Wagens, offenbar ebenso erschrocken wie das Tier, wenn auch nicht so unbeweglich, riss das Steuer herum, um auszuweichen, konnte aber die abrupte Bewegung nicht mehr ausgleichen, und das Auto holperte die Böschung hinunter, wobei es drei kleine Bäume umknickte, bevor es zum Stehen kam.
Vom Bann des Scheinwerfers erlöst, verschwand das Reh im Dunkel der Felder. Lorchen wartete eine Weile, aber nichts geschah. Sie zog ihre Schuhe  an, immer noch trug sie bevorzugt schwere Arbeitsstiefel, und ging hinaus. Die Luft war kalt. Lorchen atmete tief ein und nahm den Geruch von feuchter Erde und Frühling wahr. Dann stapfte sie mit schweren Schritten und leicht gekrümmtem Rücken zu dem Auto. Es war ein silberner Sportwagen, ein ziemlich seltenes Modell, aber das interessierte Lorchen nicht. Sie musste kräftig ziehen, um die Fahrertür zu öffnen. Über das Lenkrad gekrümmt lag bewußtlos ein  Mann. Aus seinem geöffneten Mund tropfte Blut. Über seinem rechten Auge klaffte eine Platzwunde. Er hatte kurz geschnittene dunkle Haare und seine Wangen waren weich und rund, was seinem Gesicht etwas Babyhaftes verlieh. Lorchen sah, dass er groß und hübsch war und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie war sicher, dass außer ihr niemand den Unfall beobachtet hatte. Das Haus neben ihrem war vor kurzem frisch renoviert worden, mir gläsernem Wintergarten, alles aufwändig und teuer, soweit sie das beurteilen konnte. Dort lebte jetzt eine Familie aus Berlin. Aber die schliefen um diese Zeit. Lorchen packte den Mann unter den Achseln und zog ihn aus dem Wagen und die Böschung hoch. Dort hielt sie ächzend inne . Er war schwerer, als sie gedacht hatte, aber sie wußte, dass sie es schaffen konnte. Sie verschränkte ihre Hände vor seiner Brust, drückte seinen Körper fest gegen ihren und schleifte ihn über die Straße, wobei sie mit kleinen Schritten rückwärts ging und gelegentlich über ihre Schulter sah. Als sie ihn durch ihre Haustür in den Flur bugsierte, stolperte sie über einen umgekippten  Gummistiefel und ging zu Boden. Sie stöhnte und aus dem Mund des Mannes kam ein röchelndes Geräusch, aber er bewegte sich nicht. So lag sie begraben unter dem schlaffen schweren Körper und sammelte ihre Kräfte.
Damals,  im Frühjahr 45, war plötzlich einer aufgetaucht von irgendwo, sie hatte nicht gefragt. Groß war er und stark wie sie. Er redete kaum und half ihr bei der Arbeit. Und wenn er genug zu trinken bekam, dann sang er mit unerwartet schöner Stimme. Sein Mund schmeckte nach Wein, auch wenn er nichts getrunken hatte. Das Bild seiner Stirn, auf der die dunklen Haare in sanften Wellen lagen wenn er schlief, bewahrte sie in ihrem Innern wie einen Schatz und obwohl sie es wieder und wieder hervorholte und anschaute, büßte es im Lauf der Jahre nichts von seiner Schönheit ein .  Eines Tages verschwand er genauso unerwartet, wie er gekommen war, und ehe Lorchen so richtig begriffen hatte, dass sie schwanger war, verabschiedete sich auch das Kind in einer kurzen und heftigen Blutung, als hätte es gewußt, dass es so das Beste war. Das Wenige in der Hinsicht, was danach noch kam, hatte mit Liebe nichts zu tun.

Sie wäre wohl noch eine Weile so liegen geblieben, den Rücken
auf den harten Fliesen, den Kopf voll Vergangenheit, hätte sie nicht ein Auto gehört. Es war noch ein Stück weg, aber der Schreck reichte, um sie auf die Beine zu bringen. Mit einer ruckartigen Bewegung wand sie sich unter dem Mann hervor, stand auf und zog ihn über die Schwelle ins Haus. Kaum hatte sie die Tür geschlossen, streifte das Scheinwerferlicht ihr Haus und sie hielt den Atem an. Der verunglückte Wagen war im Dunkeln von der Straße aus kaum zu sehen, dachte sie, und tatsächlich fuhr das Auto vorbei, ohne auch nur die Geschwindigkeit zu verringern. Lorchen atmete auf. Sie betrachtete den Mann, der auf dem Boden lag und, wäre da nicht das Blut in seinem Gesicht gewesen, aussah, als würde er friedlich schlafen. So jung und weich waren seine Züge. Dann fiel ihr etwas ein. Schnell lief sie noch einmal nach draußen, über die Straße zu dem Wagen. Sie schaute hinein. Auf dem Rücksitz lag eine großbusige Gummipuppe, die ein T-Shirt mit der Aufschrift
„Enjoy“ trug, mehrere leere Champagnerflaschen und ein verschmierter Spiegel. Sie öffnete das Handschuhfach: ein paar Straßenkarten lag darin und ein Stapel Polaroids. Auf allen war der junge Mann zu sehen. Lachend mit der Gummipuppe auf dem Schoß. Umgeben von anderen lachenden jungen Männer, die ihm die Arme um die Schultern legten. Mit einer echten Frau auf dem Schoß, die Ähnlichkeit mit der Puppe hatte. Lorchen steckte die Bilder in die Tasche ihrer unförmigen braunen Strickjacke und zog den Schlüsselbund aus dem Zündschloss. Dann ging sie, erfüllt von dem befriedigenden Gefühl, genau zu wissen, was sie tat, zum Haus zurück. Der junge Mann machte ein röchelndes Geräusch.  ”Ja, ja, hast dir arg weh getan, mein Kleiner, aber keine Sorge, ich kümmer mich um dich.” Sie zog ihm die schwarzen Stiefel und die Lederjacke aus. In der Innentasche fand sie sein Portemonnai . Unter einer rissigen Klarsichtfolie las sie seinen Namen: ”Bernhard”.
”Lorchen und Berni” sang sie leise vor sich hin, während sie seine Sachen im Schrank verstaute. Sie schleifte Bernhard in ihr Zimmer zum Bett, ging in die Knie und nahm ihn in die Arme. So verharrten sie einen Moment, Lorchen den schweren Bernhard auf ihrem Schoß, wie eine fettleibige Pieta.
Dann hob Lorchen ihn auf und ließ ihn in den Kissenberg fallen. Immer noch singend ging sie in die Küche und kochte Kaffee. ”Schade, dass du nicht mit mir frühstücken kannst, Bernhard Aber das wird schon wieder.”
  Bernhard hörte sie nicht. Einmal nur wurde er wach an diesem Tag, dem letzten seines kurzen Lebens und roch das Altfrauengemisch aus Mottenkugeln, Staub und Urin, das das Bett verströmte. Sein einäugiger Blick fiel auf das verblichene Plakat der Genossenschaft, das Lorchen auf dem neusten Traktorenmodell zeigte, ihre Arme muskulös und sonnengebräunt unter dem Kittel. Irgend etwas, das spürte er,  war mit seinem Mund nicht in Ordnung, die ganze untere Gesichtshälfte schien verzogen und schmerzte. In seinem Inneren spürte er einen starken Druck und das Atmen fiel ihn schwer, als säße jemand auf seiner Brust. Er hörte eine Stimme und versuchte sich aufzurichten, doch da wurde es wieder schwarz um ihn her, und er fiel zurück in die Bewußtlosigkeit.
Lorchen setzte sich an den Küchentisch. Durch die geöffnete Tür hatte sie ihr Bett im Auge. Sie genoß ihr Frühstück. Selbst die quälenden Druckstellen, die ihre Prothese auf dem Zahnfleisch verursachte, störten sie heute nicht und sie biß hungrig in ihr Marmeladenbrot.
Um kurz vor neun standen zwei Polizisten vor ihrer Tür. Ein alter dicklicher mit rotem Gesicht und ein junger, der Lorchen irgendwie  bekannt vorkam. Der Junge fragte sie nach dem Unfall, ob sie etwas gesehen oder gehört hätte. Sie starrte ihn verständnislos an, so dass er die Frage lauter, fast schreiend wiederholte. ”Nein, nein, ich hab nichts gesehen.” Als die Polizisten sich
zum Gehen wandten, sagte sie unvermittelt ”Heute ist nämlich mein Geburtstag.” Peinlich berührt starrte der Junge auf seine Füße und sagte ”Ah”, so als hätte er das wissen müssen, ”Na dann, herzlichen Glückwunsch.”
Als sie gegangen waren, überlegte Lorchen. Könnte hinkommen, dachte sie schließlich - es war lange her, seit ihr Geburtstag gefeiert  worden war. Aber jetzt hatte sie ja Bernhard. Sie beschloß, eine Torte zu backen. Sie war ziemlich außer Übung und mußte ein bißchen improvisieren, da sie Bernhard nicht allein lassen wollte, um fehlende Zutaten zu kaufen. In seinem Zustand. Der arme Kerl atmete ziemlich schwer, und sie war nicht sicher, ob die Wärmflasche, die sie auf seinen Bauch gelegt hatte, viel half. Als sie die Form aus dem Ofen holte, sah das Ergebnis auch nicht sehr vielversprechend aus. Egal, heute konnte nichts Lorchens gute Laune trüben. Sie überzog das Ganze mit einer  Schicht Zuckerguß, den sie mit Kirschsaft rosa gefärbt hatte, und war zufrieden. In die Mitte steckte sie eine dicke Kerze und stellte die Torte auf das kleine Tischchen in ihrem Zimmer. Sie ging in den Garten und schnitt alle Tulpen ab, füllte sie in eine Vase und stellte den Strauß dazu. Dann zog sie sich ihr Kleid für besondere Anlässe an. Es war schon zwanzig Jahre alt, aber so gut wie neu, da sie es selten trug. Sie setzte sich in den Sessel und betrachtete glücklich ihren Geburtstagstisch. Sie aß ein Stück Torte, die süß und pappig schmeckte. Bernhards Stück lag unberührt auf dem geblümten Teller und Bernhard lag regungslos auf dem Bett. Sein Gesicht sah aus wie aus Wachs. Lorchen betrachtete ihn unsicher. Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Die schweren, röchelnden Atemgeräusche hatten aufgehört. Lorchen beugte sich über ihn und lauschte. Er atmete nicht mehr. Sie legte ihr Ohr auf seine Brust. Auch dort war es still. Als sie ihn rüttelte und nichts geschah, fühlte sie sich betrogen. ”Nein”, sagte sie bestimmt, ”diesmal nicht. ”Sie zog ihre Hausschuhe aus , legte sich zu Bernhard aufs Bett und zog seinen Arm um sich . Sie strich die Decke zurecht und dann schlief sie. Tief, traumlos und lang wie schon seit Jahren nicht mehr.