Orangenlieferung aus dem Universum

von Bettina Homann


Eines Nachmittags, Mitte Oktober, beschließt Lene, sich das Wort „Erinnerung“ auf die Stirn tätowieren zu lassen. So wie man sich einen Knoten ins Taschentuch macht. Was dem einen seltsam erscheint, klingt für den anderen wie eine gute Idee.

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„Hör zu, Lene, ich hab jetzt echt keine Zeit, lass uns ein anderes Mal reden.“  David gibt sich keine Mühe zu verbergen, dass sie ihm auf die Nerven geht. Er beugt sich konzentriert über den Rücken einer Frau, die vor ihm auf der Liege liegt. Ihre glänzenden braunen Haare hängen auf beiden Seiten herunter wie ein Vorhang. Mit einem zusammengeknüllten Papiertuch wischt er das austretende Blut ab und betrachtet zufrieden die Linie, der er gerade gestochen hat. Lene sieht, wie die Frau ihren dünnen Arm ausstreckt und nach einer Tafel Ritter Sport Nougat tastet, die unter ihr auf dem Boden liegt. „Ready?“, fragt David und die Frau antwortet: „Ja, mach weiter.“ Und dann, den Mund voll Schokolade, sagt sie: „Weißt du, ich finde der Schmerz ist eine irgendwie spirituelle Erfahrung.“

 David studiert an der Kunsthochschule und hat vor einigen Monaten das Tätowieren als die ihm gemäße Kunstform entdeckt. „Es geht mir um unmittelbare Körperlichkeit“, sagt er. Lene hat darüber nachgedacht, sich auch tätowieren zu lassen, weil sie das einander vielleicht wieder näher bringen würde, konnte sich bisher aber für kein Motiv entscheiden. Es ist nicht so, dass sie nicht weiß, dass es klüger wäre, David zu vergessen. Sie hat es auch versucht. Aber dann kommt wieder ein Tag wie heute, an dem ihr Bedürfnis sich ihm mitzuteilen so groß ist, dass sie sich nicht beherrschen kann. Wenn sie sich ihre Gedanken in seinem Kopf vorstellt, bekommen sie etwas Berauschendes.
Lene nimmt ihre Sachen, klettert die wackeligen Stufen hinunter und geht durch den dunklen Laden nach draußen.
Die sanfte Oktobersonne beleuchtet die graffiti-verschmierten Fassaden der Waldemarstraße. „Schnösel verpisst euch“ steht auf dem Haus, in dessen zweiten Stock sich ein Fenster öffnet. Eine Frau ruft auf Türkisch ihren Kindern etwas zu, die auf dem Gehrsteig Fahrrad fahren.
 Ob Lene gekränkt ist von Davids Zurückweisung, ist schwer zu sagen. Ihre Reaktionen sind gedämpft, oft verzögert. Seit längerem schon streift sie durch ihre Tage wie in Trance.
 Sie geht die Adalbertstraße entlang, der Himmel ist blau. Ein solcher Himmel; denkt Lene. Sie biegt links in die Oranienstraße ein. Da man nie im Vorhinein weiß, worin ein Hinweis bestehen wird, hat sich Lenes Blick für Details geschärft. Die sorgfältig aufgeschichteten Türme aus glänzenden Tomaten, Auberginen und roten Paprika vor dem Gemüsegeschäft könnten etwas zu bedeuten haben. Oder die halb abgerissenen Plakate auf dem bröckeligen Putz, die Titel der Bücher im Antiquariat und die Zettel, die unter den Scheibenwischern der Autos klemmen, deren grüner und orangefarbener Lack über die Jahre stumpf geworden ist. Papierfetzen, die auf dem Bürgersteig liegen ebenso wie die Splitter von Sätzen, die in ihre Ohren dringen. Die Neonröhren und billige Holzvertäfelung des Cafes, in dem Männer mit dunklen Schnurrbärten und dunklen Anzügen sitzen, die beim Sprechen weit mit den Armen ausholen. Aus einer Bäckerei weht der Geruch von süßem Hefeteig auf die Straße, von gerösteten Mandeln und Zuckersirup. Im Schau
fenster des Import-Export-Geschäfts steht Jesus mit veilchen-blauen Augen in schwerem Goldrahmen und deutet mit dem Finger auf sein Herz, das in Flammen steht. Daneben blinken rot die Glühbirnchen, die das Plastik-Modell einer Moschee zieren. Üppig gerüschte Kleidchen in Pink und Lila hängen auf Ständern vor der Tür. Lene streicht über den glänzenden Kunststoff.  Einmal, als sie vier oder fünf war hat sie ein solches Kleid von einer Nachbarin geschenkt bekommen. Ihre Mutter ließ es verschwinden, bevor sie es auch nur anprobieren konnte. Lene denkt an ihre Mutter wie sie abends auf der Terrasse saß, auf einem der weich gepolsterten Gartenstühle, die gebräunten Beine hochgelegt. Das Klackern der Eiswürfel in ihrem Glas. Wenn Lene nachts aufwachte, richtete sie sich im Bett auf, schob den Vorhang zur Seite und schaute hinaus. Sie war erleichtert, wenn der Stuhl leer war. Wenn ihre Mutter den Tisch abgeräumt hatte, standen die Chancen gut, dass der kommende Tag ein guter Tag werden würde.
Obwohl es kühl ist, stehen vor einem Café noch Tische. Lene setzt sich. Als der Kellner fragt, was er ihr bringen soll, kann sie sich nicht entscheiden. „Lass dir Zeit“, sagt er „ich komme einfach noch mal wieder“. Lene sieht, wie seine dünnen weißen Arme schlackern, als er geht. Die schmalen Lederbänder, die er um seine Gelenke gewickelt hat, sehen aus wie Fesseln.
„He, Mordgesicht!“ Lene zuckt zusammen. Vor ihrem Tisch hat sich eine Frau aufgebaut und greift nach einem Stück Brot aus dem Korb, den der Kellner noch nicht abgeräumt hat. Ihre Nägel sind lang und gelblich und sie verströmt eine scharfe Geruchsmischung aus Alkohol, Schweiß und Urin. „Hast du mal ein bisschen Geld für mich?“ die Frau starrt Lene feindselig aus ihren wässrig blauen geschwollenen Augen an. Ihr Gesicht ist faltig, aber nicht alt. Lene kramt eilig nach ihrem Portemonnaie, so als stünde ein Schaffner vor ihr, der nicht glaubt, dass sie den Fahrschein eben noch gehabt hat. Sie wüsste gerne warum die Frau sie “Mordgesicht“ nennt, traut sich aber nicht zu fragen. Sie fühlt sich bedrängt von der Gestalt in ihrer ausgebeulten braunen Strickjacke, deren Ärmel ihr bis über die Hände hängen und die nicht bettelt, sondern befiehlt und sich dabei über die Betretenheit ihrer Opfer lustig zu machen scheint. Lene gibt der Frau ein Zwei-Euro-Stück, bemüht, dabei nicht ihre Hand zu berühren.
Es passiert zu viel, findet Lene. Alles ist so unberechenbar, auch wenn sie versucht, ihre Welt klein zu halten. Die Frau nimmt das Geldstück, betrachtet es misstrauisch, wendet sich dann  zum Gehen. Lene atmet auf.
Sie stellt sich vor, dass sie David braucht. Als Zeugen für das, was mit ihr passiert, für ihre Gefühle und Gedanken. Sie ist sicher, dass er sie versteht.

Seit Wochen hat Lene Kreuzberg nicht verlassen. Sie bleibt tagelang in ihrer Wohnung und denkt nach. Manchmal schaut sie aus dem Fenster, hinunter auf die Mülltonnen im Hof, um die herum sich ausrangierte Möbel, Teppichreste und anderer Großstadt-Müll sammeln wie Strandgut. Überall in ihrer Wohnung liegen Zettel, die sie von Laternenmasten gepflückt hat und rosafarbene Karteikarten, auf denen sie sich Notizen macht. Manche trägt sie sogar in ihrem Rucksack mit sich herum. „ An eine Frau, die am Montag, den 17.9. gegen 14 Uhr einen jungen Mann mit ihrem Handgepäck anstieß. Erst entschuldigten sie sich, dann hörte ich aus dem Rückhalt eine Anmache, die ich nicht verstanden habe. Sollte sie es gewesen sein, mich gemeint haben, würde ich mich dagegen verwahren wollen, denn es hätte nichts mit mir zu tun und wäre mir zu Unrecht geschehen.“ Lene befindet sich auf einer komplizierten Suche, bei der es jede Menge Hinweise zu berücksichtigen gilt, daher sind Notizen wichtig. Sie sucht eine Geschichte, die ihre eigene sein könnte. Erst heute Morgen hat sie ihre Notizen sortiert. Dann hat sie auf einen Zettel geschrieben:
 „Es scheint eher so zu sein, dass uns das Universum Orangen liefert, wenn wir einen Apfelbaum schütteln.“


Als der Kellner wieder kommt, bestellt Lene einen Tee mit Zitrone, er lächelt sie einen ausgedehnten Moment lang an und Lene hat das Gefühl, als ginge irgendwo hinten in ihrem Kopf ein Licht an. Eine Frau mit blauem Kopftuch und Mantel geht langsam mit gesenktem Blick vorbei, vom Gewicht der prall gefüllten Einkaufstüten zu Boden gezogen, die Füße in spitzen schwarzen Lackschuhen, die viel zu zierlich wirken für ihren schweren Gang. Lene schaut ihr nach, bis sie in einem Hauseingang verschwindet.
 „Kann ich kassieren, ich hab jetzt Schluss.“ Lene hat gar nicht bemerkt, dass der Kellner an ihrem Tisch steht. „Die nennt übrigens jeden so.“ „Was?“ „Na die Frau von vorhin. Sie nennt alle Leute „Mordgesicht“. Das ist so eine Masche von ihr.“ Lene schaut in sein schmales blasses Gesicht und überlegt, ob seine Haare wohl gefärbt sind. Sie scheinen zu schwarz um echt zu sein. „Du hast so erschreckt ausgesehen.“ „Ja“, antwortet Lene und lächelt ihn an. Er nimmt ihr Geld ohne den Blick von ihr zu wenden und steckt es in sein großes schwarzes Portemonnai.  Eigentlich müsste er jetzt gehen, aber er steht einfach da und schaut sie weiter an. Die tief stehende Sonne beleuchtet seine Ohren von hinten, so dass sie zart und rosa aussehen. „Wie bei einem Baby“, denkt Lene und unterdrückt den Wunsch, sie zu berühren. „Kannst du einen Moment auf mich warten, ich würde dir gerne etwas zeigen“, fragt er und rennt nach drinnen ohne ihre Antwort abzuwarten. Ein paar Minuten später kommt er zurück und sagt. “Wir können gehen.“
Als Lene zögert, sagt er: “Komm doch einfach mit“ und nimmt ihre Hand. Lene lässt sie ihm. Er geht schnell, sie muss fast rennen, um Schritt zu halten. Er zieht durch eine Gruppe Kindergartenkinder, die die Mariannenstraße entlanggehen, vorbei an der Kirche und durch den Park. Das nasse Gras macht schmatzende Geräusche unter ihren Füßen und es riecht nach vergorenen Äpfeln. Lene wird schwindelig und sie hat das Gefühl die Orientierung zu verlieren.
Plötzlich bleibt er stehen und zeigt auf ein Haus. „Hier ist es“. Ein ganz normales vierstöckiges Mietshaus mit herunter-
gekommener Fassade von denen es in Berlin unzählige gibt. Lene versteht nicht. Sie schaut hinauf. Im ersten Stock steht ein Fenster offen, in dem sich ein roter Vorhang bauscht.  „Das ist das Haus, in dem mein Großvater im April 1945 gesessen hat, zusammen mit zwei 14jährigen Jungen, um es gegen die Russen zu verteidigen.“ Er nimmt Lenes Finger und legt ihn in ein Loch in der Fassade. „Das ist ein Einschussloch. Die Kugel, von der dieses Loch stammt, hätte ihn treffen können. Dann gäbe es mich heute nicht.“
Lenes Herz beginnt, schneller zu schlagen.
„Ich habe auch etwas“.  Ihr Mund fühlt sich trocken an und ihre Finger zittern, als sie ihren Rucksack aufmacht und das Blatt Papier herausholt. Ein vergilbtes Blatt, das irgendwann aus einem Notizbuch, vielleicht einem Tagebuch, gerissen worden ist und viele Jahre lang zwischen den Seiten eines Buches über heimische Singvögel gelegen hat. Von dort ist es in Lenes Hände gefallen, als sie das Buch aus einer Kiste vor einem Trödelladen in der Bergmannstraße gezogen hat. Sie liest vor: „Ich verbrachte geraume Zeit auf meinem Beobachtungsposten am Fenster. Auf der Straße sah ich Frauen mit Einkaufsnetzten, Soldaten, die sich in voller Deckung an den Gebäuden entlang bewegten, gepanzerte Fahrzeuge und Kräder fuhren vorbei. Die 88-mm-Kanone in der Weichselstraße feuerte ununterbrochen. Kein deutsches Flugzeug war zu sehen, nur russische Maschinen. Die leichte Flak vom Flughafen Tempelhof war zu hören. Zur rechten verbarg eine Rauchwolke die beiden 80m hohen Türme des Warenhauses Karstadt, die das Viertel überragten.“ Ihre Köpfe berühren sich fast, als sie gemeinsam auf das Blatt schauen, auf die krakelige kleine Schrift in blauer, an manchen Stellen verwischter Tinte. „Warum, glaubst du, habe ausgerechnet ich das gefunden?“
„So etwas weiß man nie“, sagt er. „ Warum, glaubst du, hast du mich gefunden?“ Er lächelt wieder. Eine Strähne seiner viel zu schwarzen Haare fällt ihm ins Gesicht. Lene bemerkt, dass an seinem rechten Schneidezahn ein Stückchen fehlt.
„Wie heißt du eigentlich?“ fragt sie. „Franz“ antwortet er. „Ich heiße Franz.“

Lene nimmt Franz mit in ihre Wohnung. Sie schließt die schwere Tür auf von der mehrere Farbschichten abblättern und geht zusammen mit ihm über den Hof. In den kleinen Blumenbeeten blühen Astern und es riecht süßlich nach Müll und gebratenen Zwiebeln. Sie klettern fünf Stockwerke nach oben, vorbei an Fahrrädern und Kindergummistiefeln. Die Nachmittagssonne fällt durch die staubigen Scheiben in Lenes Zimmer und der Kaktus auf dem Fensterbrett hat eine kleine rote Blüte bekommen. „Such dir einen Platz, ich komme gleich“ sagt sie, geht ins Bad und schließt die Tür.
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Lene betrachtet ihr Gesicht im Spiegel. Sie streicht mit den Fingern über ihre Stirn, die glatt ist und weiß und bemerkt den überraschten Ausdruck in ihren großen blauen Augen. Dann bewegt sie leicht den Kopf als müsste sie etwas abschütteln. „Franz“, murmelt sie und fühlt staunend den Klang seines Namens auf ihrer Zunge.