Schrödingers Katze braucht Wasser
von Vera Yu

 Langsam kommt die Farbe durch. Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Sie ist nun deutlich als knalliges Rot zu sehen. Sie tut mir in den Augen weh. Ich renne auf die Toilette und übergebe mich. Dann setze ich mich wieder in den Seminarraum. Das Grundlagenstudium in Physik habe ich mit guten Ergebnissen abgeschlossen, nun stehe ich kurz vor meinem Abschluss. Meine Schwerpunkte sind die Quantenmechanik, das Katzenparadoxon von Erwin Schrödinger aus dem Jahre 1935 und die Frage, ob die Katze tot oder lebendig ist.  Am Abend setze ich mich vor den Fernseher und versuche, mein Gehirn abzuschalten. Ich zappe hin und her und esse dabei eine Tüte Kartoffelchips. "Nicht unbedingt die Ernährung, die eine Schwangere jetzt braucht", schießt es mir besserwisserisch durch den Kopf. Ich zucke und zappe bewusstlos weiter. Mein Gehirn lässt sich nicht abschalten. "Grosse Scheisse!", schreie ich, renne in die Küche, trinke aus dem Wasserhahn und atme aus. Das Ergebnis des roten Teststreifens ist eindeutig: schwanger. Mein Gehirn weigert sich, auf Autopilot umzuschalten, daher fliegen Bilder von Windeln, Flaschen und Babyschuhen durch meinen Kopf. Dazwischen auch noch ein Kinderwagen und ein Gitterbett. Sie kreisen wie Neutronen und Protonen umeinander, im Zentrum steht das Gitterbett. Es könnte eine wünschenswerte quantenmechanische Konfiguration sein, es muss nur noch ein äußeres Elektron abgegeben werden, dann behält die Verbindung seine positive Ladung. Ich sehe keine Babys in dieser Konstellation und strenge mich an, nachzudenken, wo ich sie herbekomme, um die Energieniveau-Treppe aufbauen zu können.   Das Telefon klingelt. Ich muss eingenickt sein, denn ich erschrecke mich sehr über das laute Klingeln. Ich mache die Augen auf und schaue mich um. Es ist taghell. "Mist, so spät!", rufe ich vor mich hin, als ich mich im Hinausgehen anziehe. Ich ignoriere das Telefon. Später im Seminar ist mir speiübel, so dass ich nur wenig vom Inhalt mitbekomme. "Hey, Charlotte! Ist alles in Ordnung?", ruft mir Tom hinterher. "Ja, kein Problem, war gestern eine lange Nacht im Podium, wir haben Plancks Formel über die Entropiezunahme als Realitätsdarstellung diskutiert...", antworte ich ihm. "Alles klar, verstehe...", lacht Tom, "Sehen wir uns heute abend in der Volksbühne?" "Ja," sage ich, "aber wartet nicht auf mich, ich komme etwas später!" "Wie immer, ist gut", Tom dreht sich um und geht in Richtung U-Bahnhof. Ich gehe ihm hinterher mit einem Abstand, so dass wir nicht die gleiche U-Bahn nehmen. Kaum bin ich zu Hause, klingelt wieder das Telefon. Ich habe Kopfschmerzen und reiße das Kabel heraus. Dann schmiere ich mir ein Brot mit grober Leberwurst. Als ich die Fettstückchen glattstreichen will, muss ich mich erstmal übergeben. Danach habe ich keinen Appetit mehr. Bis zur Vorstellung am Abend habe noch zwei Stunden, daher beschließe ich, eine Stunde für meine Abschlussarbeit zu nutzen, da der ganze Tag schon so wenig produktiv war. Ich widme mich den Fragen nach der Überlagerung von Wahrscheinlichkeiten, denen Schrödinger in seinem Gedankenexperiment nachging: Man nehme eine Kiste, in der eine lebende Katze sitzt. Außer ihr befinden sich in dieser Kiste noch eine radioaktive Quelle, ein Geigenzähler, um radioaktive Teilchen aufzuspüren, und eine Glasflasche mit Gift, wie zum Beispiel Zyanid. Zerfällt eines der atomaren Teilchen und der Geigenzähler spürt dieses auf, zerspringt die Glasflasche, und das Gift wird freigesetzt. Die Katze stirbt dann. Doch wann wird das sein? Der Zeitpunkt radioaktiven Zerfalls ist zufällig, statistisch berechenbar, jedoch unvorhersehbar. Das Ergebnis kann man erst nach Öffnen der Kiste wissen. Bis dahin ist die Katze wahrscheinlich tot und wahrscheinlich lebendig.  Was für ein Zustand mag das sein, denke ich mir. Eine Art Zwischenzustand in einer Zwischenwelt? Diese Zwischenwelt muss doch existieren, wenn ein Zustand zwischen tot und lebendig wahrscheinlich sein kann. Dafür muss es doch eine Formel geben, einen Nachweis. Ich fange an, alles aufzuschreiben, was mir dazu einfällt. Man weiss nie, was dabei herauskommt, wenn man es sich dann unter anderen Gesichtspunkten wieder anschaut. Auch das Modell von gestern skizziere ich und lächle dabei. Abstrus ist das doch, das mit den Windeln und den Flaschen, aber trotzdem. Ich schaue auf die Uhr: "Gütiger Gott! Verdammt!", ich renne aus dem Haus. In der Volksbühne angekommen, stehe ich noch zwanzig Minuten im Foyer herum, weil man mich erst in der Pause hereinlässt. Ich schaue mir ein rot-schwarzes Poster an, auf dem ein Mann ein Maschinengewehr triumphierend über sich hält. Wie bescheuert muss man sein, sage ich mir, die Welt mit Waffengewalt retten zu wollen. Das bestärkt mich noch mehr in meinem Versuch, eine Zwischenwelt zu entdecken, um meinen Beitrag zu leisten. Ich beginne, das Poster an einer Seite abzupulen, kratze mit meinen Fingernägeln so lange herum, bis eine Ecke sich löst und mache bei der nächsten Ecke weiter. Bis zur Pause habe ich dreiviertel des Posters geschafft. Ich treffe meine Kommilitonen im Foyer, wir trinken ein Bier zusammen und gehen in den zweiten Teil der Vorstellung. Ich versuche, mich auf das Theaterstück zu konzentrieren, schweife gedanklich aber ab und denke über die wahrscheinlich zerbrochene Giftflasche und die wahrscheinlich nicht zerbrochene Giftflasche in der Kiste mit der Katze nach. "Charlotte!", meine Sitznachbarin Uta stößt mich mit dem Ellenbogen, da wache ich auf. Ich applaudiere noch und gehe dann mit den anderen ins Podium auf ein Bier. Die Zwischenweltformel kann ich auch morgen noch vervollständigen.  Ein lautes Klopfen an meiner Tür weckt mich. "Hallo, Charlotte? Charlotte!", höre ich die Stimme meiner Mutter. Ich habe keine Ahnung, warum sie gekommen ist. Wir haben eigentlich nicht viel miteinander zu tun. "Charlotte! Bist Du da?!" "Jaaa...ich komme!", rufe ich ihr zu, schlurfe zur Tür und mache auf. "Mensch, Charlotte, Dein Telefon ist kaputt, was ist denn los?", fragt meine Mutter, während sie ungefragt eintritt. "Und das sieht aus hier...das verstehe ich wirklich nicht, aber ich sage ja nichts..." Meine Mutter schaut sich naserümpfend um. "Ich war etwas krank", antworte ich ihr auf nüchternen Magen, "Möchtest Du einen Kaffee?". Ich setze Wasser auf und öffne den Kühlschrank, der verwaist aussieht. Ich verstehe nicht, wieso nichts im Kühlschrank ist und hüte mich, meine Mutter zu fragen, ob sie mit mir frühstücken möchte. Ich muss grinsen bei dem Gedanken, was für ein Gesicht sie machen würde, wenn ich sie frage, ob sie ein oder zwei Radiergummis zum Frühstück essen möchte. "Ja, gerne einen Kaffee mit Milch. Was ist daran so lustig?", antwortet meine Mutter. "Geht auch nur mit Zucker?", frage ich sie, denn im Inneren meines Kühlschranks kann ich keine Milch entdecken. "Ja, das geht auch, aber jetzt sag´ mal, wie es Dir geht? Die von Eis Henning haben bei mir angerufen und nach Dir gefragt." "Was wollten die denn bei Dir?" frage ich empört, als ob ich mein Leben nicht im Griff habe, riefen sie jetzt schon bei meinen Eltern an. "Na, weil dein Telefon nicht in Ordnung scheint, wo ist denn dein Handy?" fragt meine Mutter. "Ich weiß es echt nicht, ich habe wohl Pech mit diesen kleinen Dingern", scherze ich mit ihr und erinnere mich wage an Mahnungen des Anbieters. "Wieso warst du denn nicht arbeiten? Wovon lebst Du denn, Charlotte?", nervt meine Mutter weiter, "Pappa hat die Miete immer pünktlich überwiesen, aber mehr schaffen wir finanziell nicht, Du musst jetzt auf eigenen Beinen stehen." "Oh, das ist super, wirklich, danke", versuche ich sie zu beruhigen, "ich war krank und habe die im Eisladen nur nicht benachrichtigt." Mist, dachte ich, den Job bin ich los, die nehmen das mit der Pünktlichkeit so genau. Ich bin schon mehrfach abgemahnt worden. "Musst Du immer so viel herumliegen lassen?", fängt meine Mutter wieder an, "das ist so ein schönes Zimmer, man kann es nur einfach nicht sehen...geschweige denn gehen..." Sie nippt verständnislos an ihrem Kaffee. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das Grundprinzip von Leben und Welt ist das chaotische Element, aber wie kann man das jemandem begreifbar machen, der in einer anderen Welt zu leben scheint? Ich versuche, ihr zu erklären, dass es hier nur wahrscheinlich chaotisch aussieht, weil es eine andere Ordnung als die ihre ist. Aber sie hört gar nicht zu und unterbricht mich mit "Jaja, ich kann es nicht mehr hören, deine physikalischen Begründungen von wegen wahrscheinlich chaotisch...es sieht hier so aus, seitdem du eingezogen bist, vor über vier Jahren. Das hier ist nicht wahrscheinlich unordentlich, das hier ist todsicher ein Saustall!" Ich weiß nicht, woher sie diese Sicherheit in ihrer Begründung nimmt und ärgere mich, dass ausgerechnet sie mir sagen will, was sicher ist und was nicht. "Was weißt Du schon? Ich arbeite schließlich über dieses Thema!", schreie ich nun. "Ja, aber das nützt Dir im Leben nichts!", schreit meine Mutter zurück, "schau Dich doch an!" "Dann geh´doch, wenn ich Dir nicht passe!", ich laufe zur Tür und mache sie auf. Meine Mutter geht wortlos an mir vorbei. Ich schließe die Tür und meine Augen. Dann übergebe ich mich bis in die Abendstunden.   Das Foto von Einstein ist atemberaubend. Innerlich verneige ich mich vor ihm. Da kommt auch schon mein Professor auf mich zu: "Charlotte, wie schön, dass Sie kommen konnten! Wie finden Sie die Ausstellung 100 Jahre Relativitätstheorie?". "Guten Abend, Herr Braun, die Ausstellung gefällt mir sehr gut, auf diese Weise bleibt das Wissen der Physiker nicht im Elfenbeinturm, sondern wird allen zugänglich gemacht", bedanke ich mich bei ihm. "Nehmen Sie sich etwas zu trinken, ich muss leider weiter, und genießen Sie die Bilder von Einstein, Bohr und den anderen Kollegen!" ruft mir Herr Braun im Weggehen noch zu. Eine Servicekraft trägt ein Tablett mit Bouletten und kleinen belegten Baguettes. Ich nehme mir so viel, wie ich in einer Hand halten kann. Ich gehe zur nächsten Servicekraft mit kleinen Gemüsesticks und greife zu. Kauend stehe ich neben Nils Bohr´s Foto und lese über seine Frequenzrelation, bei der Drehimpulse gequantelt werden. Darüber würde ich gerne mehr  wissen und mache mich auf dem Heimweg. Davor nehme ich mir noch von zwei Tabletts Snacks herunter, die ich in eine Serviette packe. Das ist einfacher als einkaufen, denke ich noch und muss lachen. In der U-Bahn nicke ich kurz ein, doch dann rüttelt mich jemand wach mit den Worten "Die Fahrausweise bitte!". Ich zucke zusammen. Fahrausweise, das Wort ist wirklich fies. Ich habe leider  keinen und muss an der nächsten Haltestelle mit aussteigen. Ich erkläre den beiden Kontrolleuren meinen Zustand in der Hoffnung, sie würden Rücksicht nehmen, aber sie bleiben stur. "Mein Gott, ich bin schwanger! Hört Ihr!", schreie ich jetzt. Die beiden verziehen keine Miene. "Auch Schwangere müssen einen Fahrschein zum Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln besitzen, tut mir leid!", antwortet der eine. Ich fange an zu weinen über diese Ungerechtigkeit, in meinem Portemonee ist kein Geld, und ich bin schwanger. Ich schreie los und renne weg. Ein Beamter rennt mir hinterher. Ich haste und stolpere die Rolltreppe hoch, stoße am Blumenstand einige Eimer um und laufe Richtung Ausgang. Ich renne um die Ecke und gehe in einen Laden für  Sanitätsbedarf. Dort atme ich aus. Der Beamte rennt am Laden vorbei. Die Verkäuferin fragt mich "Kann ich Ihnen helfen?", doch ich kann ihr nicht antworten. Aus meinem Mund kommt kein Wort. Mir wird schwindelig, die Knie werden weich. Die Verkäuferin stützt mich und ich erbreche über ihren Arm.     Vier Tage später finde ich wieder eine Mahnung der BVG im Briefkasten, aber bisher war es unwirksam, mich zu ermahnen. Das werden sie schon einsehen. Ich kippe mir einen halben Becher Wasser in mein Müsli und esse erstmal in Ruhe auf. Dann drehe ich meinen Kopf herum und schaue aus dem Fenster. Dabei kann ich den Geruch meiner Haare riechen. Ich bin froh, diese endlich mal durchfetten zu lassen. Ich trete auf eine alte Zeitung und blicke auf das Gesicht irgendeines Politikers. Dann trete ich mit dem Fuß darauf. Schließlich springe ich auf dem Gesicht herum, bis ich nicht mehr kann. Ich habe Nasenbluten. Ich bin atemlos und setze mich an meinen Küchentisch. Einatmen und ausatmen. Das ist das Wichtigste zum Überleben. Ich drehe ein Taschentuch zu einer Spitze und stopfe es mir in mein rechtes Nasenloch. Mit dem linken kann ich noch atmen. Dann fange ich an, meine Formel für die Wahrscheinlichkeit von Zwischenwelten weiterzuentwickeln. Ich werde sie nächste Woche an der Uni meinem Professor vorstellen, er wird sicherlich Augen machen. In der letzten Zeit ist unser Verhältnis nicht mehr so gut, aber das liegt daran, dass ich ihn so selten sehe. Meine Formel wird eine neue Dimension von Realitäten nachweisen. Ausgehend von der These, dass sich die  Wahrscheinlichkeiten überlagern können, dass also die Katze von Schrödinger, die in der Kiste sitzt, wahrscheinlich tot und wahrscheinlich lebendig ist, werde ich meine Annahme begründen, dass mehrere Realitäten gleichzeitig existieren. Diese Realitäten nenne ich auch  Zwischenwelten oder inter-mundi. Ich existiere in so einer Zwischenwelt. Ich bin der lebende Beweis und werde einen Erfahrungsbericht schreiben, um meine These empirisch zu belegen. Mit Quantensprüngen bewege ich mich innerhalb der verschiedenen inter-mundis, bin wahrscheinlich hungrig und wahrscheinlich satt, wahrscheinlich schwanger und wahrscheinlich nicht schwanger, wahrscheinlich ist mir kalt und wahrscheinlich ist mir warm. Die Lösung für Schrödingers Katzenparadoxon wäre aus meiner Sicht eine Supraflüssigkeit, d.h. vereinfacht, der Katze zunächst Wasser zum Trinken geben. Dann würde sie pinkeln müssen, die Kiste weicht auf, die Katze kann fliehen. Das Paradoxon würde sich auflösen, ohne dass man die Wahrscheinlichkeiten der Katze in Frage stellt. Vorausgesetzt, die Kiste ist aus Pappe, bei Holz dauert dieser Prozess des Aufweichens um ein Vielfaches länger. Wunderbare Sache, denke ich mir, als es an der Tür klopft. Ich höre nicht hin und skizziere weiter. Es ist noch so viel zu tun, bis die Formel ausgereift ist, so viele kleine Änderungen stehen noch an. Es ist eine mathematische Herausforderung, aber die nehme ich gerne an, auch wenn mir der Kopf schwirrt. An der Uni bekomme ich so eine Herausforderung nicht, daher heißt es: weitermachen. Das Klopfen wird lauter und eindringlicher. Ich schüttele den Kopf und versuche, mich nur auf meine Blätter vor mir zu konzentrieren. Ich darf keine Störungen zulassen, sonst werde ich nicht rechtzeitig fertig. "Aufmachen!", schreit eine unbekannte Stimme aus dem Flur. Ich erstarre und atme nur noch flach. Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, ich beeile mich und schreibe die Zahlen nur so herunter. Dann kracht es. Jemand hat die Tür eingetreten. Ich schaue auf, sehe einen unbekannten Mann, der einen Zettel in der Hand hält und meine Mutter, die hereintritt und sagt: "Charlotte, Kind, es tut mir leid, aber so kann es doch nicht weitergehen. Du lebst doch im Müll...schau Dich um, was soll ich sagen? Du hast eine Haftandrohung der BVG, weil Du seit über einem Jahr immer wieder ohne Fahrschein fährst, und Dein Professor rief an, weil sie Dich exmatrikulieren müssen, wenn Du weiterhin die Uni schleifen lässt...". Ich schaue sie nur an und frage mich, was mit meiner Mutter nicht stimmt, aus welcher Zwischenwelt sie eigentlich kommt. "Ich weiß nicht, was Du redest, aber Du störst mich gerade bei meiner Arbeit", sage ich schließlich und halte mich am Tisch fest.  Meine Mutter schaut erst den Mann an, wendet sich dann zu mir und sagt mit versöhnlicher Stimme: "Bitte, Charlotte, Du musst jetzt mitkommen, es ist ein richterlicher Beschluss..."